Interview mit Drehbuchautor Paul Laverty: "Mein Blut kocht"

Ohne Paul Laverty wären die Filme Ken Loachs nicht denkbar. Seit 1996 schreibt er die Drehbücher - so auch für "It's a Free World", der zurzeit in den Kinos läuft.

Der Markt braucht keine demokratischen Abstimmungen, sondern bloß die Zustimmung zum Ausgebeutet-Werden. Bild: neue visionen

taz: Herr Laverty, Sie sind mit dem Film "It's a Free World" nach Berlin gekommen, zu dem Sie für Ken Loach das Drehbuch geschrieben haben. Die Premiere, vor der wir dieses Gespräch führen, wird von der IG Metall ausgerichtet. Sind Sie einverstanden, wenn Ihre Filme auch als Agitationsmaterial für Gewerkschaften fungieren?

kam 1957 in Kalkutta zur Welt, sein Vater ist schottischer Herkunft, seine Mutter Irin. Er studierte Philosophie in Rom und Jura in Glasgow und arbeitete als Anwalt. Mitte der 80er-Jahre lebte er für drei Jahre in Nicaragua, wo er für eine lokale Menschenrechtsorganisation tätig war. Aus seinen Erfahrungen gewann er das Drehbuch für "Carlas Song", seine erste Zusammenarbeit mit Ken Loach. Es folgten die Bücher unter anderem für "Mein Name ist Joe" (1998), "Bread and Roses" (2000) und "The Wind that Shakes the Barley" (2006).

Paul Laverty: Aber ja. Gewerkschaften sind wichtiger als Filmemacher. Sie müssen wieder relevant werden, und dazu kann es nicht nur um Arbeit gehen, sondern um die Entstehung von Gemeinschaften, in denen die Menschen ihre Würde wiederfinden können. Die Gewerkschaften müssen über kollektive Arbeit nachdenken, die Fragmentierung der Arbeit ist ein Problem. Das muss in die Debatte gebracht werden. Ich bin begeistert, dass unser Film dazu etwas beitragen kann.

Wie kamen Sie denn auf die Geschichte von Angie, die sich in "It's a Free World" als Arbeitsvermittlerin selbständig macht und die Brutalität des Arbeitsmarktes nicht nur verspürt, sondern auch weitergibt?

Nach "The Wind That Shakes the Barley" wollte ich etwas aus unserer Gegenwart machen. Wir nehmen sehr große Veränderungen wahr, aber was passiert genau? Ich dachte ursprünglich an drei Männer, die in einem der Großmärkte an den Stadträndern arbeiten. Ich fuhr nach Norden und traf dort zum Beispiel Menschen aus Osteuropa, die Erdbeeren pflücken. Es gibt überall riesige Vertriebszentren, in denen nur wenige Menschen fest angestellt sind, und der Rest macht Zeitarbeit. Supermärkte haben mich immer sehr interessiert, sie machen so viel Arbeit unsichtbar. Wir kaufen Gemüse aus Zimbabwe oder Neuseeland, wissen aber nichts darüber, wie das produziert wurde. Ich wollte von einer Welt erzählen, in der Arbeit radikal "ausgegliedert" wird und es für alles Subunternehmer gibt, also Leute, die unterhalb einer bestimmten Schwelle etwas anbieten. Als ich auf Angie kam, passte plötzlich alles zusammen.

Sie wird mehr oder weniger dazu gezwungen, Unternehmerin zu werden und die Arbeiterklasse zu verraten.

Sie kommt aus der Arbeiterklasse. Ihr Vater war Gewerkschafter. Nun schaut sie in die Zukunft, und sie sieht Armut, wenn ihr nichts einfällt. Sie sieht fehlende öffentliche Leistungen, sie sieht, dass ihr Kind nicht das bekommen wird, was es braucht. Deswegen ergreift sie die Initiative.

Ihr Tun entspricht eigentlich einem Dogma des Neoliberalismus. Sie entscheidet sich für den Übergang von der Arbeits- in die Dienstleistungsgesellschaft. Sie übernimmt Verantwortung für sich selbst und für andere - allerdings in einer Situation, in der Fairness nicht immer möglich ist.

Sie muss sich gegenüber der Konkurrenz einen Vorteil verschaffen. Es hat mir offen gestanden auch Spaß gemacht, es diesen Predigern, die vom Finanzzentrum in London aus den anderen Ländern in Europa Vorschriften machen, wie sie ihre Wirtschaft zu deregulieren haben, einmal so richtig zu zeigen, was dabei herauskommt: kriminelle Verhältnisse.

Wie weit lässt diese Situation den Menschen denn noch die Chance, ein Bewusstsein für die Lage und für Schuld oder Gerechtigkeit zu entwickeln?

Angie weiß sich zu behaupten, sie hat Witz und Schärfe, sie ist streetwise. Sie sieht immer ihren Vorteil, dazu kommt ihre Mutterrolle. An diesem Komplex der Arbeitsvermittlung hängt ja auch eine ganze Geschichte echter Kriminalität, mit Menschenschmugglern und mafiösen Strukturen. Uns hat aber mehr die Grauzone der Legalität interessiert. Angie gehört nicht zum organisierten Verbrechen, aber sie bricht auch Gesetze.

Wie wichtig ist das Drehbuch bei Filmen von Ken Loach?

Viele Menschen haben eine falsche Vorstellung von Kens Methode. Sie glauben, dass er einfach die Wirklichkeit abfilmt. Die Drehbücher sind aber meistens so gut ausgearbeitet, dass die Schnittfassung am Ende relativ nahe dranbleibt. Es soll nur so real und lebendig aussehen, als ob es improvisiert wäre. Das ist sein Geheimnis als Regisseur. Er holt wirklich viel aus den Schauspielern heraus.

Ihr erster gemeinsamer Film war "Carlas Song". Wie kam es dazu?

Das kam ganz zufällig. Ich war ein Anwalt in Glasgow. In den 80ern ging ich nach Nicaragua, um die sandinistische Revolution zu unterstützen. Die wurde von den USA radikal sabotiert. Ich war Mitte zwanzig und habe für eine Menschenrechtsorganisation gearbeitet. Es hat mich wütend gemacht, aber auch irgendwie fasziniert, zu sehen, wie hier systematische Gewalt gegen ein Land mit drei Millionen Menschen ausgeübt wird: Es gab ein wirtschaftliches Embargo, es gab Milizen, es gab absolute Zerstörungsmacht. Ganz unschuldig habe ich nach drei Jahren gesagt: Darüber schreibe ich einen Film. Ich kam zurück und schrieb ein Treatment, das an viele Leute ging. Ken war von Beginn an sehr neugierig, und er hat mich ermutigt, ein paar Szenen zu schreiben, einen Protagonisten zu erfinden, ihm einen Job zu geben, und so bin ich Schritt für Schritt hineingeraten. Später habe ich diese Erfahrungen dann auf andere Bereiche, etwa auf meine Heimatstadt Glasgow in "My Name is Joe", übertragen.

Heute ist in Nicaragua mit Daniel Ortega ein Veteran der Revolution an der Macht, aber er scheint den alten Idealen nicht treu geblieben zu sein.

Es ist eine schreckliche Tragödie. 1990 verloren die Sandinisten die Wahlen. Das war wirklich keine freie Wahl, sondern eine Erpressung durch die USA. Ortega kommt aus dieser Zerstörung. Er ist eine charismatische Figur, hat sich aber mit der Rechten und der katholischen Kirche verbunden, und es gibt auch offensichtlich sehr viel Korruption. Er verkörpert die Verirrung, die entstanden ist. Es ist ungeheuer schwierig, den Wurzeln treu zu bleiben: der Landreform, der Gesundheitsversorgung, der Alphabetisierung. Dem stand eine Weltwirtschaft gegenüber, die dafür sorgte, dass diese Politik sich nicht verbreitete. Die Leute, die dahinter standen, haben uns später auch den Irakkrieg gebracht: Negroponte, Cheney, Wolfowitz, Bremner. Mein Blut kocht, wenn ich daran denke. Sie sind alle Kriegsverbrecher.

War es auch eine Art Kompensation für die Enttäuschungen der Thatcher-Jahre in England, dass Sie nach Nicaragua gingen?

Es waren in erster Linie persönliche Gründe. Ich war von 12 bis 20 in einer konfessionellen Schule, danach wollte ich die Welt sehen. In Nicaragua waren damals so viel interessante Menschen, Leute, die für den Frieden meditierten, aber auch Leute, die aus der CIA kamen, oder Veteranen aus dem Vietnamkrieg, die ihre Verbrechen wiedergutmachen wollten. Ich erinnere mich an einen Trupp deutscher Klempner, super Typen.

Konnten Sie Erfahrungen aus Nicaragua verarbeiten, als Sie "The Wind That Shakes the Barley" schrieben?

Es gibt Momente in der Geschichte, in denen etwas möglich ist, und so oft werden sie versäumt. Ich habe mit diesem Film das zentrale Narrativ erschüttert, in dem Engländer ihre Geschichte sehen. Es gibt überall Bestrebungen zu einer Rehabilitation des Empires. Ich sagte also: Gut, lasst uns nachsehen, wie die Kolonie funktioniert hat, die England ganz nahe war. Es gab 1918 eine Wahl in Irland, die von England nicht anerkannt wurde, danach kam es zum Krieg. England hat es in einem genialen, zynischen Manöver geschafft, einen Kolonialkrieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln. Ich hätte tatsächlich viele Szenen nicht schreiben können ohne meine Erfahrungen in Nicaragua.

Die freie Welt der Globalisierung erweist sich als zerstörerisch für internationale Solidarbeziehungen. Wie ließe sich dem entgegenwirken?

Die gegenwärtige Krise bietet eine ideale Gelegenheit, die richtigen Fragen zu stellen: Was brauchen die Menschen wirklich? Wie können wir Gemeinschaften schaffen, die auf diese Bedürfnisse eingehen? Im Moment geht fast das ganze Geld, das die Staaten ausgeben, in den Finanzsektor, und wieder werden die Menschen nichts davon haben.

Immerhin spricht Barack Obama von massiven Investitionen in die Infrastruktur.

Ich hoffe, er macht das. Ich kann ja der ganzen Obamania nicht so viel abgewinnen. Die Demokraten haben schon so viele Gelegenheiten verpasst. Die Leute von der Basis müssen Druck machen, sonst wird auch Obama sich wieder an die Konzerne ausliefern und weiter Kriege führen.

INTERVIEW: BERT REBHANDL

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.