Dossier: Mein Lexikon der Gemeinplätze



Gemeinplatz – was ist das?

Ein kommunikativer Topos, ein sprachliches Mem, das sich innerhalb der menschlichen Kommunikation eine “biologische” Niesche erobert hat, indem es, vorgeblich verbreitenswerte Information enthaltend, durch beständiges Wiederholen sich in seinem Wirt festsetzt und durch Nachahmung auf neue Wirte weiter vererbt.


Es ist bekannt, dass Gemeinplätze mitunter Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende überdauern und sogar eine Evolution durchmachen können. Doch im Gegensatz zur genetischen Natur haben wir das Glück, oftmals Schöpfer eines Gemeinplatzes namentlich zu kennen. So hat sich zum Beispiel das berühmte »cogito ergo sum« (»ich denke, also bin ich«) eines René Descartes’ heimlich (immer “still und leise”) in ein »coito ergo sum« gemendelt, wobei in der Tat Urheber und Werk inzwischen oftmals nur unter Mühen zugeordnet werden können.

Ursprung eines Gemeinplatz ist “nicht selten” (also oft) einstmals ein neuer Gedanke eines Individuums gewesen, ein Verdacht, eine Theorie, ein geistreicher Witz, eine Idee oder auch eine demagogische Behauptung, also ein kurzer Ausspruch, der im konkreten Moment einen pragmatischen Sinn ergeben hatte, dann aber durch seine bestimmte Eigenheit als Mem Besitz ergriff von jedwedem Gehirn, welches sich damit beschäftigte, wobei mit der spezifischen Situation auch jedweder primäre Aussagenutzen verloren ging.

So wenig wie für den rein wissenschaftlich betrachtenden Biologen der globale "Nutzen" oder "Schaden" einer Spezies von Belang sein darf, sind auch "Wahrheit" oder "Lüge" keine Kategorien, nach denen Gemeinplätze beurteilt werden dürfen. Umgekehrt aber haben Gemeinplätze, als sprachlich-gedankliche Parasiten oder Symbionten betrachtet, durchaus ihren Nutzen für den jeweiligen Wirt.

Erstens: gesellschaftliche Integration. Denn wer einen Gemeinplatz breit tritt, kann sicher sein, dass er, wenn nicht sowieso im sozialen Konsens befindlich, sich doch wenigstens im Zentrum der Aufmerksamkeit bewegt und mit wenig oder jedenfalls gut kalkulierbarer Gegenwehr zu rechnen hat. Aber Vorsicht: Eingerechnet werden muss, dass es Gemeinplätze gibt, die darauf abzielen, andere Gemeinplätze zu kontern (“The struggle of life”).

Zweitens: Sicherheit. Denn jede neue, womöglich beängstigende Nachricht oder neue Information kann sofort mit Hilfe eines Gemeinplatzes gedanklich verortet werden. Gefährlich scheinende, ja umstürzlerische Gedanken werden pariert, und liebgewonnene Weltsichten können sogar gestützt werden.

Drittens: Gemeinplätze klingen schön und es macht Spaß diese auszusprechen, so wie es Kindern Spaß macht, “Ga-ga” zu sagen.

Viertens: Es macht Spaß, Gemeinplätze zu entlarven, indem man quasi wie ein Ornithologe mit Tropenhut, Feldstecher und Tonbandgerät durchs kommunikative Dickicht streicht und jedes entdeckte Exemplar registriert und eingliedert.

Gerne lasse ich Sie, sozusagen unter Privatgelehrten, Teil haben an der Ausbeute meiner bisherigen Streifzüge.


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